Vom Dilemma, Stadtkindern die Natur zu erklären
Autor: Fabian Peter Kusterer, Vivarium Hamburg, Stadtteilschule Am Hafen, Stand: 17.01.2024
Wir verlieren unseren Bezug zur Natur
Für ein Kind, das in einer Großstadt, wie zum Beispiel Hamburg, aufwächst, besteht in der Regel kein oder kaum ein Kontakt zur Natur, wenn dieser nicht aktiv durch die Eltern, die Kita oder die Schule vermittelt wird. Der eigene Lebensraum in der Stadt, der eigene Stadtteil und die eigene Wohnung, werden ausschließlich als menschlich geschaffene Kulturlandschaft erlebt und wahrgenommen. So sorgt auch die kleinste Spinne, die durch das Wohnzimmer krabbelt für panikartige Reaktionen: Selbst als Erwachsene werden Kinder, die den Bezug zur Natur nicht erlernt haben, sofort panisch aufschreien, wild im Zimmer umherspringen und ggf. nach dem nächsten Schlagwerkzeug oder dem Staubsauger greifen. Dabei geht von dem Tier mit absoluter Sicherheit keine Gefahr aus. Es liegt lediglich eine irrationale Angst vor, die durch kognitive Verzerrungen oder ggf. durch unangemessenes soziales Lernen entstanden ist. – In den seltensten Fällten basiert eine Angst vor Spinnen oder anderen Tiergruppen auf realen traumatischen Erlebnissen.
Irrationale Angst vor Lebewesen
Irrationale Angst entsteht beispielsweise durch reale Angsterlebnisse, die jedoch durch nicht reale Gefahrensituationen ausgelöst wurden. Zu dieser Form des Lernens tragen unter anderem zeitgenössische Medien, insbesondere soziale Netzwerke und Filme bei, sodass sich ein verzerrtes Bild der Realität in Emotionen und Gefühlen wie Ekel manifestiert. In unserem Beispiel der völlig harmlosen Spinne, die durch das Wohnzimmer krabbelt, wird diese irrationale Angst in der direkten Auseinandersetzung mit Horrorfilmen oder Animationen, GIFs und Memes aus sozialen Netzwerken befördert. Nun sind fiktionale Riesenspinnen oder spinnenähnliche Kreaturen aus Alienfilmen natürlich nicht zu vergleichen mit den realen Vertretern der über 100.000 Arten umfassenden Tiergruppe unseres Planeten. Schon alleine dadurch, dass der Angstzustand durch erfundene, nicht reale Objekte ausgelöst und verstärkt wird, wird deutlich, dass die irrationale Angst also in der Regel unbegründet ist.
Gleichzeitig wird diese irrationale Angst vor Lebewesen, durch das soziale Lernen im Elternhaus weitergegeben. Selbst wenn ein Kind niemals einer realen Gefahrensituation ausgesetzt war, wird sich der Ekel oder die Panik der Mutter oder des Vaters automatisch durch Konditionierung auf das Kind übertragen.
Und es sind bei Weitem nicht nur Spinnen oder Schlangen, die solche irrationalen Ängste auslösen, es sind im Prinzip alle Lebewesen, die nicht der Kuscheltier- oder Disney-Optik entsprechen sowie die Lebensräume in denen man ihnen begegnen könnte. – So konnte ich in den vergangenen Jahrzehnten eine zunehmende irrationale Angst bei Stadtkindern beobachten, sich auf eine grüne Wiese zu setzen. Alleine die Vorstellung, dass dort etwas leben könnte und der direkte Körperkontakt hergestellt werden könnte, sorgt dafür, dass sich Kinder und Jugendliche nicht mehr ins Gras setzen möchten, trotz einer Picknickdecke als Unterlage. Die Vorstellung oder der Ekel vor den Lebewesen in der Wiese wird zugleich verstärkt durch den nicht-sterilen natürlichen Bodengrund, der von den Kindern selbst bei schönem, trocknem Wetter ablehnend als nass, matschig oder dreckig beschrieben wird. – In einer besonders absurden Situation suchte eine Schülerin gemeinsam mit einer Klassenkameradin eine von der übrigen Klasse weiter entfernte Sitzbank im Park auf, um der möglichen Begegnung mit krabbelnden Kleinstlebewesen auf der Picknickwiese zu entgehen. Als sie schließlich auf der Parkbank sitzend im Gespräch mit ihrer Freundin von einer Wanze angeflogen wurde – das Tier verfing sich infolge der ausgelösten Panik in ihrem langen Haar – war die Schülerin nicht mehr zu halten und wurde auf eigenen Wunsch binnen kurzer Zeit von ihrem Vater im Park abgeholt.
Die irrationale Angst überträgt sich bei Stadtkindern auf die Vorstellung, dass ihnen aus dem Kontakt zu Lebewesen Gefahr droht. Die kleinste Berührung durch ein Insekt kann irrationale Angstvorstellungen auslösen. Dabei äußert sich dies in der Regel durch die sozial erlernte Emotion des Ekelns.
Ich würde so weit gehen, zu behaupten, dass diese Form der Entfremdung von der Natur, ein gesellschaftlich geprägtes Massenphänomen ist. Dabei wird die Realität ausgeblendet, dass auch die Stadt ein Ökosystem ist, in dem wir in direkter Wechselwirkung mit den Lebewesen stehen, die an das Leben in diesem Kulturraum angepasst sind. Jede Platane einer Allee mit den sechs Quadratmetern Erd- und Schotterfläche zwischen der Backsteinumrandung stellt ein kleines Biotop dar, auf das wir Menschen zum Leben angewiesen sind.
Ein Fenster zur Natur
Für Stadtkinder kann das Schulvivarium als Fenster zur Natur dienen, das ihre Wahrnehmung von der Umgebung, in der sie leben, verändert. Es hilft, den Mythos zu brechen, dass Natur nur in abgelegenen Wäldern oder weit entfernten Gebieten existiert. Das Vivarium macht deutlich, dass die Kulturlandschaft der Stadt ein integrierter Bestandteil des natürlichen Ökosystems ist, auf das die Menschen zum Überleben angewiesen sind.
Darüber hinaus bietet das Schulvivarium die Möglichkeit, Umweltbewusstsein zu fördern und die Bedeutung nachhaltigen Handelns zu betonen. Schüler können erfahren, wie empfindlich Ökosysteme sind und wie menschliche Aktivitäten das Gleichgewicht beeinflussen können. Dies wird beispielsweise vereinfacht an den aufwendigen Tätigkeiten zur Aufrechterhaltung des Biotops in einem Aquarium verdeutlicht. Das dabei erworbene Bewusstsein für die Empfindlichkeit von Biotopen kann zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit der Umwelt in der Stadt und darüber hinaus führen.
Gesundheitliche Folgen der Naturentfremdung
Die zunehmende Entfremdung von der Natur und die damit einhergehende Einschränkung der Bewegungsfreiheit für Kinder und Jugendliche in urbanen Umgebungen haben nicht nur Auswirkungen auf ihre geistige und emotionale Entwicklung, sondern auch erhebliche gesundheitliche und körperliche Folgen. Kinder, die den natürlichen Spielraum im Freien nicht nutzen oder sogar aktiv meiden und sich stattdessen nur in Räumen entwickeln, die von vier Wänden umgeben sind, laufen Gefahr, gesundheitliche Probleme zu entwickeln.
Dazu gehört in erster Linie die grundlegende körperliche Fitness, das Gespür für den eigenen Körper und die Reaktionen des Körpers, sich in realen Risikosituationen in der Natur zu behaupten. Ein Kind, das lernt, auf einem krummen Baumstamm zu balancieren, wird später ein geringeres Risiko haben, zu verunfallen und sich ernsthaft zu verletzen. – Die Unfallkasse Nord regt aus diesem Grund die Gestaltung naturnaher Schulhöfe an. – Die Natur bietet Kindern die Möglichkeit, sich auf vielfältige Weise zu bewegen, sei es durch Klettern, Rennen, Springen oder Balancieren. Diese natürlichen Bewegungen fördern die Entwicklung von Muskeln, Gelenken und dem gesamten Bewegungsapparat.
Des Weiteren beeinträchtigt die begrenzte Naturerfahrung die sensorische Wahrnehmung von Kindern. In der Natur können sie unterschiedliche Texturen fühlen, verschiedene Gerüche wahrnehmen und die Naturgeräusche hören. Dies trägt zur Entwicklung ihrer Sinne bei und fördert ein ganzheitliches Verständnis ihrer Umgebung. Kinder, die ihre Freizeit hauptsächlich mit Medien (Fernseher, Smartphone, Computer etc.) verbringen, werden dagegen mit einer eingeschränkten sensorischen Stimulation konfrontiert, was sich negativ auf ihre kognitive Entwicklung und die Leistungen in der Schule auswirkt.
Zusätzlich hat der Mangel an Naturkontakten und Bewegung im Freien Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Kinder. Naturaktivitäten sind nachweislich mit einem geringeren Risiko für Stress, Angstzuständen und Depressionen verbunden. Der Kontakt mit der Natur ermöglicht es den Kindern, sich zu entspannen, Stress abzubauen und positive Emotionen zu erleben. Kinder, die diese Möglichkeiten nicht haben, sind möglicherweise anfälliger für soziale Herausforderungen und emotionalen Druck.
Der Verlust des direkten Kontakts zur Natur und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit im Lebensraum Stadt haben weitreichende Auswirkungen auf die Gesundheit und körperliche Entwicklung von Kindern. Ein bewusstes Gegensteuern durch die Integration von Naturerfahrungen, ist daher nicht nur wichtig für die individuelle Entwicklung der Kinder, sondern auch für die Gesundheit der Gesellschaft als Ganzes.
Beitrag der Schulvivarien zur Naturerfahrung
Die Notwendigkeit des direkten Kontakts zu Lebewesen und zur Natur für Stadtkinder wird immer deutlicher, wenn wir die Konsequenzen der aktuellen Entfremdung betrachten. Diese Entfremdung zeigt sich nicht nur in irrationalen Ängsten vor harmlosen Lebewesen, sondern auch in einer generellen Unsicherheit im Umgang mit der Natur. Die Arbeit der Schulvivarien ist ein wirksamer Ansatz in der Vermittlung von Naturkontakten sowie dem dazu benötigten Wissen und der Möglichkeit zur Reflexion des eigenen Handelns.
Ein Schulvivarium ist eine lebendige Lernumgebung, die eine Vielzahl von Pflanzen und Tieren umfasst und den Kindern ermöglicht, einen direkten Kontakt zu Lebewesen herzustellen. Durch die regelhafte Interaktion mit den Lebewesen im Vivarium können Kinder lernen, dass die Natur in der Regel aus nicht-bedrohlichen Wesen besteht, sondern vielmehr ein komplexes Netzwerk von Lebensformen ist, die miteinander interagieren. In dieser Interaktion lernen die Kinder ihre eigene Rolle kennen sowie die Natur zu achten und zu bewahren. Schlussendlich üben die Kinder dadurch im kontrollierten Umfeld des Schulvivariums, auf unvorhersehbare reale Naturkontakte kontrolliert und überlegt zu reagieren. – Wenn Kinder die Stabheuschrecken und Fauchschaben in der Schule kontrolliert handhaben können, werden sie den Kleinstlebewesen im Park oder im Kinderzimmer mit einem anderen Verhalten und insbesondere mit anderen Emotionen, als dem Ekel, begegnen.
In einem Schulvivarium können Stadtkinder nicht nur Tiere und Pflanzen beobachten, sondern auch aktiv Verantwortung für deren Pflege und Schutz übernehmen. Dieser handlungs- und erlebnisorientierte Ansatz ermöglicht es den Kindern, ihre Ängste – insbesondere die sprichwörtlichen Berührungsängste – abzubauen, indem sie lernen, die Natur als einen positiven und unterstützenden Teil ihres Lebensraums zu sehen. Sie entwickeln ausgehend von den (teils exotischen) Lebewesen im Vivarium ein Verständnis für die Bedeutung von Pflanzen und Tieren in ihrem Ökosystem Stadt.
Darüber hinaus fördert das Schulvivarium die Entwicklung zahlreicher Fähigkeiten, darunter Teamarbeit, Beobachtungsgabe und Respekt gegenüber anderen Lebewesen. Kinder lernen, wie sie sich behutsam in der Natur bewegen können und entwickeln ein tieferes Verständnis für ökologische Zusammenhänge – insbesondere auch für den eigenen Einfluss auf die Natur. Diese Erfahrungen sind nicht nur lehrreich, sondern tragen auch dazu bei, eine nachhaltige und umweltbewusste Denkweise zu fördern. Dies ist nicht nur entscheidend für die Auseinandersetzung zwischen dem Individuum und der Natur, sondern auch für die Wiedererlangung des Naturbezugs durch die Gesamtgesellschaft.
Insgesamt ermöglicht ein Schulvivarium den Stadtkindern, ihre Wahrnehmung von Natur zu verändern und sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Durch den direkten Kontakt zu Lebewesen werden nicht nur irrationale Ängste abgebaut, sondern auch ein tieferes Verständnis für die natürliche Umwelt entwickelt. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um die Entfremdung von der Natur zu überwinden und den jungen Generationen die Möglichkeit zu geben, verantwortungsbewusste und umweltbewusste Bürger zu werden.
Lernen ohne Smartphone und soziale Medien
Die negativen Einflüsse moderner Medien und digitaler Endgeräte auf die Entwicklung von Kindern sind ein weiterer bedeutender Faktor im Dilemma der Naturentfremdung. Die ständige Verfügbarkeit von Smartphones, Tablets und Computern verleitet Kinder dazu, ihre Freizeit vermehrt drinnen zu verbringen und sich digitalen Inhalten zuzuwenden. Die virtuelle Welt bietet neben einer verzerrten Realität und damit falschen oder irrelevanten Lerninhalten zusätzlich stark eingeschränkte sensorische Erfahrungen und in der Regel keine Bewegungsanlässe im Gegensatz zur Naturerfahrung.
Die Faszination für virtuelle Erlebnisse führt vermehrt dazu, dass die realen, natürlichen Erfahrungen vernachlässigt werden. Infolgedessen können Kinder Schwierigkeiten haben, Beziehungen zur realen Umwelt – und auch zu den Mitmenschen – aufzubauen und verpassen es ein tieferes Verständnis für ökologische Zusammenhänge zu entwickeln. – Verstärkt wird diese Entwicklung durch meist bildungsferne Elternhäuser, die die Notwendigkeit sozialer Interaktionen (z.B. Spielen und Vorlesen) und Naturbegegnungen nicht explizit oder nicht ausreichend in die kindliche Erziehung und Entwicklung einbinden.
Ein Schulvivarium stellt daher nicht nur eine Gegenmaßnahme gegen die Naturentfremdung dar, sondern auch gegen die Auswirkungen der digitalen Medien. Die Arbeit in einem Schulvivarium ist sprichwörtlich als Handwerk oder Handarbeit zu betrachten. Statt digitaler Bildschirme stehen hier lebendige Wesen im Mittelpunkt, und die Kinder werden dazu ermutigt, ihre Hände aktiv einzusetzen – sei es beim Pflanzen, Pflegen, Streicheln, Untersuchen oder Beobachten. – Das Schulvivarium kann also als Ort für den digital detox genutzt werden.
Das Handwerkliche im Umgang mit Lebewesen fördert nicht nur die körperliche Aktivität, sondern auch die manuellen Fertigkeiten der Kinder – insbesondere die Feinmotorik. Die Arbeit im Schulvivarium schafft eine Verbindung zwischen den Händen und der Natur, was wiederum dazu beiträgt, sensorische Wahrnehmungen zu schulen. Durch das direkte Erleben von Pflanzen und Tieren entwickeln die Kinder ein Bewusstsein für die natürlichen Abläufe und den Wert der Natur, der in digitalen Welten oft verloren geht.