Die „Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz e.V.“ vertritt die Position, dass „eine tiergestützte Intervention (TGI) mit nicht domestizierten Tierarten“, wie z. B. Landschildkröten, Fischen, Schlangen und nicht domestizierten Vogelarten, „auf die Beobachtung dieser Tiere in ihrem artgerechten Umfeld beschränkt bleiben sollte. Dabei sollen die Tiere die Entscheidungsfreiheit haben, den Abstand zu den Menschen selbst zu bestimmen, und ein Nahkontakt oder gar Berührung der Tiere soll nicht primäres Ziel der TGI sein.“ Dabei werden die pädagogischen und didaktischen Ansprüche des Einsatzes von nicht domestizierten Tieren sowie ihre Bedeutung für den Umwelt-, Natur- und Artenschutz nicht berücksichtigt.
Lehrkräfte im Ring der Vivariumschulen haben sich aufgrund dieser Position intensiv mit ihrer eigenen Arbeit auseinandergesetzt, da in Schulvivarien neben Wirbellosen und Fischen insbesondere Reptilien und Amphibien gehalten werden und zum Einsatz im biologischen Fachunterricht sowie im Rahmen Tiergestützter Interventionen herangezogen werden. Im Folgenden wird dieser Einsatz in Bezug zu den Anforderungen des Tierschutzes gesetzt.
Förderung des Verantwortungsbewusstseins und der Empathie
Der kontrollierte und durch pädagogische Fachkräfte beaufsichtigte Kontakt mit nicht domestizierten Tieren kann bei Kindern und Jugendlichen das Verantwortungsbewusstsein und die Empathie fördern. Beispielsweise lernen Schülerinnen und Schüler, die Bedürfnisse einer Kornnatter zu erkennen und zu respektieren, indem sie deren Verhaltensweisen beobachten. Dies unterstützt die Entwicklung einer wertschätzenden Haltung gegenüber Tieren und der Natur im Allgemeinen. Empathie gegenüber Lebewesen, Pflanzen und Tieren zu empfinden, ist zugleich eine Basiskompetenz, die das Leben lebenswerter und erfahrungsreicher macht und das Umweltbewusstsein stärkt.
Naturschutz und Artenkenntnis sind aktive Umwelterziehung
Durch den Einsatz von nicht domestizierten Tieren im schulischen Kontext wird das Bewusstsein für die Bedeutung von Naturschutz und Artenvielfalt gestärkt. Die Schülerinnen und Schüler erhalten die Möglichkeit, Tiere aus nächster Nähe zu beobachten und deren Verhalten zu studieren. Beispielsweise können sie im Biologieunterricht die verschiedenen Verhaltensmuster von Schneckenbuntbarschen oder Madagaskar-Fauchschaben studieren. Dies führt zu einem besseren Verständnis für die Lebensweise und Bedürfnisse verschiedener Tierarten, was langfristig den Naturschutz fördert. Der Umgang mit Tieren im Schulvivarium fördert zugleich den verantwortungsvollen Umgang mit Lebewesen im Alltag und in der Umwelt der Kinder und Jugendlichen. Tiergestützte Interventionen sind in diesem Kontext aktiver Natur- und Umweltschutz. Insbesondere bei naturentfremdeten und mediendominierten Stadtkindern muss das Bewusstsein für die Lebewesen in ihrer Umwelt erst Teil des subjektiven Konzeptes werden; Umwelterziehung kann nicht mehr per se im Zuge der Sozialisierung von Kindern als selbstverständlich angenommen werden.
Individuelle Betreuung und Rücksichtnahme auf das Tierwohl
Im schulischen Umfeld werden die Tiere individuell betreut und ihre Bedürfnisse stets berücksichtigt. Der pädagogische Einsatz von Tieren ist zeitlich auf wenige Minuten pro Schulwoche begrenzt. Dabei wird besonders auf die artspezifischen Anforderungen sowie die Tierindividualität geachtet. Anzeichen für Stress oder besondere Zustände, wie z.B. Häutungsphasen oder Trockenruhe bei Reptilien, werden erkannt und respektiert, was zu einem Kontaktverbot führt. Zum Beispiel wird eine Königspython während ihrer Häutungsphase nicht gehandhabt, um zusätzlichen Stress zu vermeiden.
Schülerinnen und Schüler erfahren, wie bedeutend es ist, auf die Bedürfnisse und das Wohlbefinden anderer Lebewesen Rücksicht zu nehmen. Sie entwickeln dadurch Verantwortungsbewusstsein. Die zeitlich begrenzte und achtsame Interaktion mit den Tieren zeigt ihnen, wie wichtig es ist, Grenzen zu respektieren und Rücksicht auf individuelle Unterschiede zu nehmen. Indem sie lernen, Anzeichen von Stress und besonderen Zuständen bei Tieren zu erkennen und entsprechend zu handeln, entwickeln sie ein Bewusstsein für Sensibilität und Achtsamkeit im Umgang mit anderen Lebewesen.
Den Tieren stehen in den Schulen Rückzugsräume (z.B. Höhlen, Verstecke, Bepflanzung, rückwärtige Tierhaltung, Stallungen) und verhältnismäßig außerordentliche Ruhephasen zur Verfügung. Diese Maßnahmen stellen sicher, dass die Tiere nicht überfordert werden und sich jederzeit zurückziehen können, wenn sie Ruhe benötigen. So haben beispielsweise Leopardgeckos Zugang zu versteckten Bereichen in ihrem Terrarium, in die sie sich zurückziehen können, wenn sie nicht beobachtet werden möchten. Dies trägt maßgeblich zum Wohlbefinden der Tiere bei.
Überwindung der Naturdistanzierung
Das Sprechen über die Tiere, das Beobachten und gegebenenfalls Erleben mit ihnen führt dazu, dass Schülerinnen und Schüler Ängste gegenüber den Tieren überwinden. Grundlage dafür ist in erster Linie nicht der direkte Tierkontakt, sondern auch schon die Auseinandersetzung mit den Haltungs- und Pflegeanforderungen der Tiere. Dies gilt nicht nur für den schulischen Kontext, sondern auch für den Alltag und die Umwelt der Kinder. Zum Beispiel kann das Beobachten und Diskutieren über das Verhalten einer Vogelspinne oder einer Stabschrecke Schülerinnen und Schülern helfen, ihre Ängste vor Spinnen und Insekten abzubauen. Ebenso kann das Beobachten und Sprechen über das Verhalten von Bienen oder Schmetterlingen Schülerinnen und Schülern helfen, ihre Ängste vor Fluginsekten zu überwinden. Der indirekte Kontakt zu Tieren kann somit bereits dazu beitragen, Hemmungen abzubauen. Im Zuge der fachkundigen Tierpflege können die Tiere dann schließlich auch den Tierkontakt erlernen und üben, um beispielsweise Tiere zu wiegen, sie einer gezielten Fütterung zuzuführen oder für den Transport zum Tierarzt vorzubereiten.
Förderung von Empathie und Umweltbewusstsein
Der Umgang mit Tieren fördert nicht nur das Verantwortungsbewusstsein für die Lebewesen in der Natur und Umwelt der Kinder und Jugendlichen, sondern stärkt auch Verantwortungsübernahme und soziale Basiskompetenzen. Sie lernen, empathisch zu handeln, was sowohl im Umgang mit Tieren als auch im menschlichen Miteinander von großer Bedeutung ist. Beispielsweise können Gruppenprojekte, bei denen Schülerinnen und Schüler gemeinsam für ein Aquarium mit Fischen verantwortlich sind, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Teamarbeit fördern. Empathie ist eine Grundvoraussetzung für ein harmonisches und respektvolles Zusammenleben und trägt folglich zur Förderung des Umweltbewusstseins bei. Den Menschen als soziales Wesens zugleich als Teil seiner Natur und Umwelt zu begreifen ist eines der vorrangigen Ziele Tiergestützter Interventionen.
Die Biophilie-Hypothese, die von E.O. Wilson formuliert wurde, besagt, dass Menschen eine angeborene Affinität zur Natur und zu lebenden Organismen haben. Diese Hypothese bietet eine Erklärung dafür, warum der Kontakt mit Tieren und natürlichen Umgebungen positive Auswirkungen auf das menschliche Wohlbefinden haben kann. Neurologisch ist diese Hypothese durch die Wirkungsweise von Oxytocin zu erklären. Die Wirkungsweise dieses „Bindungshormons“ wurde in der tiergestützten Therapie mit Hunden nachgewiesen (vgl. Beetz, 2015, S.75f). Es stimuliert prosoziales Verhalten, reduziert Angst und erzeugt ein Gefühl der Ruhe. Zudem senkt es das Stresshormon Kortisol für mehrere Stunden. Diese positiven Effekte lassen sich auch durch den sachkundigen und gezielten Einsatz von nicht domestizierten Tieren beobachten (Julius et al., 2014, S.83) – selbst im Kontakt mit Schlangen, Echsen und wirbellosen Tieren wie Fauchschaben. Auch das Beobachten von Fischen in einem Aquarium kann ähnliche Wirkungen hervorrufen.
Unsere täglichen Beobachtungen bei der Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern unterstreichen die potenziellen Vorteile Tiergestützter Interventionen, nicht nur mit Schulhunden, sondern auch mit nicht domestizierten Tieren.
Lernen mit Tieren
Der Kontakt mit Tieren kann die Motivation der Schülerinnen und Schüler steigern. Tiere wirken oft als Katalysatoren für Lernprozesse und können das Interesse und die Begeisterung der Kinder und Jugendlichen für verschiedene Themengebiete wecken. Beispielsweise kann die Pflege und die Verhaltensbeobachtung von Ratten oder Mäusen dokumentiert werden, wodurch ihre Begeisterung für Naturwissenschaften und Biologie gesteigert wird. Diese intrinsische Motivation kann zu besseren Lernleistungen und einer positiveren Einstellung zum Umgang mit Lebewesen und der Auseinandersetzung mit ihren Bedürfnissen führen.
Durch den regelmäßigen und kontrollierten Umgang mit Tieren lernen die Schülerinnen und Schüler, wie sie sich sicher und respektvoll gegenüber Tieren verhalten. Dies umfasst sowohl das Erkennen von Stresssignalen bei Tieren als auch das richtige Handeln in verschiedenen Situationen. Beispielsweise lernen Schülerinnen und Schüler, wie man eine Vogelspinne sicher und ohne Stress für das Tier aus dem Terrarium nimmt und wieder zurücksetzt (z.B. für die Reinigung des Terrariums). Solches Wissen trägt zur Unfallprävention bei und vermittelt den Schülerinnen und Schülern wichtige Fähigkeiten für den verantwortungsvollen Umgang mit Tieren.
Qualifizierte Betreuungspersonen
Die für die Tierhaltung in der Schule verantwortlichen Personen benötigen Sachkunde und regelmäßige Fortbildungen. Sie kennen sowohl die individuellen Persönlichkeiten der Tiere als auch die der Schülerinnen und Schüler und können so den Kontakt zwischen Mensch und Tier optimal gestalten und überwachen. Durch kontinuierliche Fortbildung und Schulung wird sichergestellt, dass die Bedürfnisse der Tiere immer im Vordergrund stehen. So wissen Lehrkräfte beispielsweise, wann ein Chamäleon gestresst ist und welche Maßnahmen getroffen werden müssen, um das Wohlbefinden des Tieres sicherzustellen.
Die primären Ziele der schulischen tiergestützten Intervention umfassen das Tierwohl, die Förderung von Empathie und Verantwortungsbewusstsein, die Vermittlung von Wissen über Tier- und Naturschutz sowie Artenkenntnis. Diese Ziele stellen sicher, dass durch den pädagogischen Einsatz von Tieren im schulischen Kontext nicht nur das Wohl der Tiere gewährleistet ist, sondern es unterstützt die Kinder und Jugendlichen gleichzeitig in ihrer Entwicklung zu umweltbewussten Menschen. Der Nahkontakt wird dabei erst in Betracht gezogen, wenn die Rahmenbedingungen für einen sicheren und respektvollen Umgang mit den Tieren geschaffen sind.
Die Unterscheidung in domestizierte und nicht domestizierte Tiere beim Nahkontakt
Im Sinne des Tierschutzgesetzes sollte kein Unterschied zwischen domestizierten und nicht domestizierten Tieren beim Nahkontakt gemacht werden, da beide Gruppen von Tieren spezifische Bedürfnisse und Verhaltensweisen haben, die berücksichtigt werden müssen, um Stress und Leid zu vermeiden. Dies wird deutlich, wenn man das Verhalten von Hausmeerschweinchen und Kornnattern vergleicht und den Mensch-Tier-Kontakt in beiden Fällen betrachtet.
Hausmeerschweinchen sind Fluchttiere, die in einem festen Sozialgefüge leben. Sie sind von Natur aus sehr scheu und reagieren auf plötzliche Bewegungen oder unbekannte Reize mit Flucht. Ihre natürliche Veranlagung zur Flucht bedeutet, dass sie beim Nahkontakt mit Menschen, besonders wenn dieser unvorbereitet oder ungewollt erfolgt, erheblichen Stress erleben können. Dieser Stress kann ihre Gesundheit beeinträchtigen und ihr Wohlbefinden stark mindern. Ein erzwungener Kontakt kann zu chronischem Stress führen, der sich in körperlichen Symptomen wie Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit und sogar in Verhaltensstörungen äußern kann. Die Gewöhnung eines Hausmeerschweinchens an den Menschen könnte in diesem Kontext nur durch Einzelhaltung und intensiven Bindungsaufbau gelingen, was allerdings der arttypischen Haltung widerspräche.
Kornnattern hingegen können sehr gut einzeln gehalten werden und zeigen ein völlig anderes Verhalten im Vergleich zu Meerschweinchen. Sie sind weniger scheu und können durch klassische Konditionierung lernen, bestimmte Handlungen mit positiven Erfahrungen zu verbinden. Zum Beispiel kann eine Kornnatter durch regelmäßiges, vorsichtiges und positives Handling lernen, dass das Herausnehmen aus dem Terrarium und das anschließende Füttern in einer separaten Box mit einer positiven Erfahrung (Körperwärme des Menschen, abschließende Nahrungsaufnahme) verbunden ist. Durch diese positive Verstärkung wird der Mensch-Tier-Kontakt für die Kornnatter nicht stressig, sondern im Gegenteil, er kann zu einem erwünschten Verhalten führen.
Die klassische Konditionierung im positiven Sinne basiert darauf, dass ein Tier durch wiederholte, positive Erfahrungen lernt, bestimmte Handlungen oder Situationen zu akzeptieren oder sogar zu bevorzugen. Bei Kornnattern kann dies effektiv umgesetzt werden, da sie die Verknüpfung zwischen dem Herausgenommenwerden und dem Füttern als positiv erlernen. Dies reduziert ihren Stress und fördert ein gesundes Verhalten.
Im Gegensatz dazu ist es bei Meerschweinchen viel schwieriger, durch klassische Konditionierung einen ähnlichen Effekt zu erzielen, da ihre Fluchtreaktion tief verwurzelt ist und der Kontakt mit Menschen oft als Bedrohung empfunden wird, unabhängig davon, wie oft und wie vorsichtig dieser Kontakt stattfindet. Hier ist der Stress durch den Mensch-Tier-Kontakt fast unvermeidlich und kann nicht durch einfache positive Verstärkung beseitigt werden.
Dies ist nur ein Beispiel, um zu verdeutlichen, dass das im Sinne des Tierschutzgesetzes keine Unterscheidung zwischen domestizierten und nicht domestizierten Tieren gemacht werden sollte, da die individuellen Bedürfnisse und Verhaltensweisen der Tiere im Vordergrund stehen müssen. Der Fokus sollte darauf liegen, wie der Mensch-Tier-Kontakt gestaltet wird und welchen Einfluss dieser auf das Wohlbefinden des Tieres hat. Nur so kann ein wirklicher Tierschutz gewährleistet werden, der das Wohl aller Tiere respektiert und fördert.
Verfasst von Fabian Peter Kusterer, 10.11.2024, auf Basis der Ring-internen Diskussion im Rahmen der Jahrestagung 2024 in Lutherstadt Wittenberg.